Geschichte der Übergabe der Stadt Heidenheim 1945

Um Legendenbildung zu vermeiden, möchte ich die Ereignisse vor dem 24. April 1945 und diejenigen vom 24. und 25. April schildern, insofern sie mir durch eigene Erlebnisse und Mitwirkung und auch derjenigen der Firma Voith zugänglich gewesen sind.

Leider war es mir nicht möglich, genaue Aufschriebe über die Zeiten zu machen, so daß dieselben rückblickend nur ungefähr angegeben werden können.
Die Frage "Lähmung" oder "Zerstörung" hat uns schon viele Wochen vorher stark beschäftigt. Die durch das Rüstungskommando befohlene "Lähmung" der Werke, die auf ein bestimmtes Stichwort hin erfolgen sollte, schien für die Werke tragbar, allerdings wenig wirkungsvoll für den Gegner, da es unter allen Umständen sehr einfach gewesen wäre, die Firmen nach der Besetzung zu einer Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit der Werke zu zwingen.

Um so niederschmetternder wirkte die Verlesung eines radikalen Führerbefehls durch den Kreisleiter vor den Betriebsführern. Danach sollte auf das bezeichnende Stichwort "Nero" hin eine weitgehende Zerstörung der Werke, insbesondere der Kraftanlagen, vorgenommen werden. Es sollten aber auch die öffentlichen Anlagen, wie Wasserwerke, Elektrizitätswerke, Mühlen usw. zerstört werden. Es war wohl die allgemeine Stimmung in der Industrie, diesem Befehl nicht nachzukommen. Bei der Firma Voith beispielsweise hatte sich eine Gruppe von entschlossenen Männern gebildet, die bereit waren, gegebenenfalls mit Waffengewalt eine Zerstörung des Werkes zu verhindern. Ich selbst stand auf dem Standpunkt, daß ich niemals Hand an das Werk meines Vaters und Großvaters legen würde. Wohl wurde nach einigen Tagen dieser radikale Befehl durch einen neuen Führerbefehl abgelöst, der sich der ursprünglichen Lähmungsanordnung näherte. Auch wurde die Angelegenheit durch einen Erlaß Speers durch die Rüstungskommandos behandelt. Wir waren aber durchaus nicht sicher, ob der seit jeher herrschende Dualismus nicht auch hier sich unheilvoll auswirken würde, d. h. daß die Partei sich an den Speer-Befehl nicht hält und trotzdem versucht, gegebenenfalls zu zerstören. Tatsächlich bestand das Stichwort "Nero" bei der Partei auch weiterhin fort und ich hatte auch sonst Veranlassung, sehr wachsam zu sein.

Dieses Hin und Her spielte sich in der Zeit vom 17. März bis 2. April ab. Inzwischen kam ein Lastwagenzug von 40 Wagen der Organisation Todt bei der Firma Voith an und brachte das Material für eine neue Fertigung mit, die von einer Frankfurter Firma begonnen war und die wir weiterführen sollten. Hierfür lag ein Befehl des Stellvertreters Speers für Süddeutschland vor. Es handelte sich hierbei um eine automatische Flugzeugkanone großen Kalibers, die in die neuen Flugzeuge eingebaut werden sollte. Es war aber nicht zu vermeiden, daß bald bekannt wurde, es sei dies eine der Wunderwaffen, die das Vaterland retten sollte. Leider war dies nicht nur ein Gerücht, sondern es wurde auch bestätigt durch die maßgebenden Herren, die uns zu allergrößter Eile und Leistung aufforderten, da wir, nämlich die Firma Voith, "das Zünglein an der Waage" sein könnten!
Auf der einen Seite erschien mir diese Angelegenheit symptomatisch für die verzweifelte Strohhalmpolitik der Regierung, auf der anderen Seite sah ich eine starke Erhöhung der Luftgefahr durch Übernahme dieser Fertigung, die wir nicht ablehnen konnten.

Inzwischen waren die Amerikaner in Crailsheim eingedrungen, was große Unruhe in der Stadt hervorbrachte. Gerüchte tauchten auf über eine Dissonanz zwischen dem Kreisleiter und dem Oberbürgermeister, ersterer wolle verteidigen, letzterer wolle die Stadt zur offenen Stadt erklären usf. Ich besuchte daher den Oberbürgermeister anfangs April und frug ihn gewissermaßen im Auftrag der Firma und der Gefolgschaft, was eigentlich los sei. Ich erklärte, zu dieser Frage ein Recht zu haben, da es hier nicht nur um das Schicksal der Stadt, sondern auch um das der hundertjährigen Firma Voith gehe. Der Oberbürgermeister erklärte, daß der Kreisleiter und er darin einig seien, die Stadt unter allen Umständen zu verteidigen. Sie werden bis zuletzt im Amt bleiben und dann die Uniform des einfachen Volkssturmmannes anziehen und im Volkssturm untertauchen bzw. kämpfen. Es sei ein neuer Kampfkommandant da, der die Vorbereitungen für die Verteidigung der Stadt in die Hand genommen habe. Der Oberbürgermeister erging sich hierauf in geschichtsphilosophischen Betrachtungen und meinte, die Geschichte habe keinen Sinn mehr, wenn der Krieg verloren werde. Ich verzichtete darauf, den Oberbürgermeister über die wahren Gründe des sicheren Zusammenbruchs aufzuklären und erklärte ihm nur, ich wolle keine Schuldfrage aufwerfen und nur als Techniker sprechen. Nachdem man aus dem letzten Weltkrieg nichts gelernt habe, trete nunmehr die Zerstörung Europas zwangsläufig ein. Die moderne Technik, die ihrem Wesen nach völkerverbindend und grenzenüberwindend sei, müsse als Kampfmittel angewandt in dieser Weise sich auswirken und sich selbst aufheben. Man hätte also unter allen Umständen und mit allen Mitteln den Krieg unter den europäischen Nationen vermeiden müssen. Die Hoffnung des Oberbürgermeisters auf bevorstehende politische Wendungen, Revolution in Rußland, Differenz zwischen Rußland und den angelsächsischen Ländern, hörte ich mit Schweigen an.

Kurz darauf fand beim Kreisleiter eine Sitzung statt, in der der neue Kampfkommandant, ein junger Panzerhauptmann, vorgestellt wurde, der erklärte, er sei beauftragt, den Bau der Panzersperren zu leiten und gegebenenfalls die vorhandenen sogenannten Alarmeinheiten, das sind die gerade anwesenden versprengten oder sonstigen Wehrmachtsangehörigen, zusammenzufassen und mit dem Volkssturm zusammen einzusetzen. Gegebenenfalls werde er sich mit diesen Kräften der Wehrmacht zur Verfügung stellen. Also auf der ganzen Linie sehr trübe Aussichten für die Stadt und es sah so aus, als ob nur ein Wunder die Stadt davor behüten könnte, angesichts der Gesamtlage ohne schwere Schäden davonzukommen.

Inzwischen kam am 20. April der Befehl zur Lähmung der Fabrik. Am gleichen Tag entschloß sich auch der Beauftragte für die neue Fertigung, mit Sack und Pack abzufahren. Es sollte gerade am nächsten Tag die erste Kanone zum Beschuß kommen! Die 40 Lastwagen verließen die Stadt und ich ging um 9 Uhr abends alleine durch die nunmehr leere, stillgelegte und gelähmte Fabrik, tief bewegt über das vorläufige Ende einer hundertjährigen Entwicklung.
Die folgenden Tage banger Erwartung sind allen Heidenheimern unvergeßlich.

Die strategische Lage Heidenheims war eine eigentümliche: Im Westen verlief die feindliche Linie von der Westecke des Bodensees herauf über Ehingen-Geislingen-Gmünd nach Aalen, von Aalen nach Südosten zurücklaufend an Heidenheim vorbei über Neresheim, Dischingen nach Dillingen. In Dillingen war schon ein Brückenkopf gebildet. Heidenheim war also zu drei Viertel eingekesselt und die Lücke im Süden wurde stündlich enger. Die waldreiche Umgebung hat augenscheinlich die Amerikaner davon abgehalten, mit Panzern schneller auf Heidenheim vorzugehen, um so mehr, als die Zufahrtsstraßen von West und Nord mit Panzersperren versehen waren und die Truppen östlich von Heidenheim die Absicht erkennen ließen, möglichst schnell über Dillingen in der Richtung Augsburg-München vorzudringen und Heidenheim rechts liegen zu lassen.

Eine Verteidigung Heidenheims in diesem spitzen Winkel war also militärisch angesehen von vornherein völlig aussichtslos. Tatsächlich strömten in den Nächten vorher größere deutsche Truppenmassen nach dem Süden, um noch durch die Lücke zwischen Ulm und Lauingen hindurchzukommen. Ich war mir darüber klar, daß die nördlich Heidenheims stehenden Kräfte daher nicht mehr bedeutend sein konnten und nur die Aufgabe haben mußten, den Rückzug zu decken. Die Nachrichtenübermittlung war sehr unsicher und die Kreisleitung die einzige Stelle, wo Nachrichten hereinkamen. Von dort bekamen wir durch Teilnehmer an den Lagebesprechungen jeweils Mitteilung. Inzwischen war ein Feldkommandant General Münch eingetroffen, der sich mit seinem kleinen Stab im Altenheim befand und den ich besuchte, um über die Lage etwas zu erfahren. Er schien aber wenig orientiert und wurde am letzten Tag ersetzt durch einen Major der Wehrmacht, der Kommandant der Nachhuttruppen war und den oben erwähnten Rückzug decken sollte.
Unser eigenes Hauptquartier befand sich im Luftschutzturm, nachdem nach der Stillegung der Fabrik mit wenig Personal noch fast alles Kriegsmaterial teilweise durch Lastautos der Wehrmacht, teilweise durch Waggons nach Süden herausgeschafft worden war.

Die Lufttätigkeit war verhältnismäßig gering; es erschienen nur einzelne Jagdbomber, die am Samstagmorgen, den 21. April, einen neben dem Luftschutzturm befindlichen Schuppen leicht in Brand gesetzt hatten.

Was die politische Lage betrifft, so ergab sich die Frage: Werden der Kreisleiter und die übrigen Parteileute als Volkssturmmänner kämpfen oder werden sie die Stadt im letzten Moment verlassen? Letzteres fand statt und als ich am 24. nachmittags erfuhr, daß die Kreisleitung verlassen ist und der Oberbürgermeister sein Amt an den ältesten städtischen Beamten, Herrn Stadtamtmann Schwaderer, abgegeben hatte, setzte ich mich sofort telefonisch vom Turm aus mit Herrn Schwaderer in Verbindung. Ich hatte die Absicht, mich ihm zur Verfügung zu stellen. Unser Gespräch wurde aber durch den Beschuß des Eugen-Jaekle-Platzes unterbrochen. Ich schickte daraufhin einen Boten auf das Rathaus mit einem Brief, in dem ich Herrn Schwaderer mitteilte, daß ich als Vertreter der Industrie gegebenenfalls zur Verfügung stünde. Herr Dr. Plappert sandte Herrn Ketterle auf das Rathaus, der nach einiger Zeit bei mir anrief mit der Bitte, ich solle auf das Rathaus kommen. Es befanden sich daselbst die städtischen Beamten Bürgermeister Schwaderer, Baurat Beutler, Stadtkassier Banz in großer Sorge um das Schicksal der Stadt. Wir beschlossen, zu dem im Altenheim sich befindlichen Kommandanten der Nachhuttruppen, dem oben erwähnten Major, zu fahren und ihn um Auskunft über die Lage zu bitten. Herr Dr. Plappert kam mit seinem Wagen und schloß sich uns, d. h. Herrn Schwaderer und mir, an.

Als wir zum Altenheim kamen, trafen wir außerhalb desselben den Oberbürgermeister Dr. Meier, der erklärte, der Kreisleiter Kronmüller sei zur Zeit beim Major. Nachdem wir einige Zeit gewartet hatten, begaben wir uns schließlich hinauf und trafen den Kreisleiter in dem Moment, da er das Zimmer des Majors verließ. Diese Situation war zweifellos ein wenig heikel. Ich benutzte die Gelegenheit, um mich vom Oberbürgermeister und Kreisleiter zu verabschieden, die augenscheinlich die Absicht hatten, mit Fahrrädern wegzufahren. Wie ich später hörte, sind beide Herren in den Abendstunden abgefahren.

Wir stellten uns dem Major als Vertreter der Stadt und der Industrie vor und baten ihn um seine Auffassung über die Lage und über das zu erwartende Schicksal der Stadt. Er klärte uns an Hand der Karten auf und gab die Aussichtslosigkeit einer Verteidigung der Stadt zu. Unseren Appell an ihn, die Stadt wenn möglich von Kampfhandlungen zu verschonen, beantwortete er dahingehend, daß seine Aufgabe sei, den Rückzug der Truppen zu decken, er selbst werde sich mir der Nachhut gegen Abend und in der Dunkelheit nach Süden absetzen. Falls aber die Amerikaner angreifen, müsse er sich selbstverständlich wehren und könne dann keine Rücksicht nehmen auf die Stadt. Mit einem nochmaligen Appell verabschiedeten wir uns und mußten also feststellen, daß das Schicksal der Stadt auf Messers Schneide stand.

Ich selbst hatte morgens um 7 1/2 Uhr eine Fahrt auf dem Rad durch die Stadt gemacht und hatte bei der Cattunmanufactur Sturmgeschütze beobachtet. Auch erfuhr ich von Offizieren, daß Batterien außerhalb der Stadt aufgestellt und auch innerhalb der Stadt MG-Nester eingerichtet waren.
Die nächsten Stunden waren nun außerordentlich spannend, um so mehr, als man von Osten schießen hörte, und wie ich von Augenzeugen später erfuhr, auch bei Nattheim und Oggenhausen Plänkeleien stattfanden. Wir warteten mit Sehnsucht auf die Dämmerung.
Im Westen schien die Lage ruhig zu sein, dagegen drückten die Amerikaner von Norden und von Nordwesten. Es kam also alles darauf an, ob die Amerikaner noch in den Abendstunden Heidenheim forcieren würden oder nicht.

Inzwischen wurde es später und später und man konnte endlich von unseren Beobachtern die Mitteilung bekommen, daß die deutschen Truppen sich langsam zurückzogen, während 2 Sturmgeschütze noch am Galgenberg zur Rückendeckung standen, um gegebenenfalls die Straße von Schnaitheim nach Heidenheim zu beschießen.

Im Lauf des Nachmittags hatte ich Herrn Langbecker, den Kreisstabsführer des Volkssturms, bei der Kreisleitung angerufen, der gleich mit der Frage kam, er höre, die Stadt solle kampflos übergeben werden. Ich erwiderte ihm, daß ich beim Nachhutkommandanten gewesen sei, daß derselbe in der Dämmerung abhauen und nichts tun wolle, wenn er nicht angegriffen werde, daß infolgedessen auch der Volkssturm sich zurückhalten möge. Ich bat ihn noch einmal dringend, die Stadt nicht durch völlig aussichtslose Schießereien zu gefährden.

Inzwischen kam gegen Abend die Nachricht, daß der Volkssturm aufgelöst sei, die Leute ihre Waffen bei der Arbeitsfront abgeben, nach Hause gehen und ihre Uniformen ausziehen werden. Auch hörte ich, daß Herr Langbecker sich nach Hause begeben habe und seine Aufgabe als beendet ansehe.

Plötzlich wurde vom Rathaus angerufen, die Amerikaner drängen von drei Seiten auf die Stadt ein, ich solle sofort kommen. Auf dem Rathaus befanden sich wiederum die Beamten Bürgermeister Schwaderer, Stadtkämmerer Heselschwerdt, Baurat Beutler und Stadtkassier Banz, ferner Herr Ketterle, später auch die Herren Dr. Plappert, Oberingenieur Mann und der Kunstmaler Illenberger, der augenscheinlich der Veranlasser dieser plötzlichen Einberufung war und der Ansicht war, man müsse sofort den Amerikanern entgegengehen. Wir lehnten das als verfrüht ab und orientierten uns telefonisch nach allen Richtungen über das Stadium des Rückzugs der Nachhut.

Auf dem Galgenberg befanden sich 2 Sturmgeschütze, die Schießbefehl hatten und bis zuletzt ausharren sollten. Herr Ketterle und Herr Dr. Eilken haben das Verdienst, die Geschützführer so lange davon abgehalten zu haben, zu schießen, bis der Befehlswagen kam, der den Abmarsch befahl. Es hätte sonst zweifellos ein größerer Schaden durch Artilleriebeschuß des Gegners stattgefunden. Tatsächlich fuhren dann beide Panzer, der eine die Erchenstraße, der andere auf der Ostseite der Stadt nach Süden ab und die Amerikaner schossen mit einigen leichteren Kalibern nach ihnen. Bei dieser Gelegenheit bekam das Hauptbüro der Firma Voith einen Treffer, der einen leichten Brand verursachte; auch das Dach der Zimmerei wurde durchschossen und auch an anderen Stellen der Stadt entstanden einige Schäden.

Inzwischen erfuhren wir durch telefonischen Anruf bei Herrn Oberrechnungsrat Hering im Stadtteil Schnaitheim, daß Schnaitheim schon von den Amerikanern besetzt sei. Wir forderten ihn auf, den Amerikanern zu sagen, daß die Stadt von Truppen frei sei und infolgedessen kein Widerstand geleistet werde und der stellvertretende Oberbürgermeister bereit sei, die Stadt zu übergeben. Nach einiger Zeit telefonierte Herr Hering zurück, daß der Bürgermeister morgens um 7 Uhr in Schnaitheim sich einfinden solle.

Inzwischen war es Nacht geworden. Da es hieß, daß auch von der Richtung Zang her die Amerikaner vordringen, beschlossen wir, d. h. die Herren Dr. Plappert, Mann, Illenberger und ich, zu Fuß auf der Straße nach Zang vorzugehen. Am Eugen-Jaekle-Platz sahen wir die letzten Soldaten im Gänsemarsch im Schatten der Häuser abziehen. Danach wurde es vollständig still und man hörte nur in der Ferne das Rasseln der beiden abziehenden Sturmgeschütze. Wir befanden uns also sozusagen im "Niemandsland". Die Panzersperre unterhalb des Schafhauses war offen und verlassen. Herr Illenberger holte sich ein weißes Tuch in seiner Wohnung. Herr Mann und Herr Illenberger gingen bis an den Waldrand am Galgenberg vor, während Herr Dr. Plappert und ich am Schafhaus zurückblieben. Die Herren kamen nach etwa 20 Minuten zurück, ohne auf den Amerikaner gestoßen zu sein.
Wir begaben uns daraufhin nach Hause, um - wie verabredet - am nächsten Morgen um 7 Uhr zur Unterstützung des Bürgermeisters nach Schnaitheim zu fahren.

Ich teilte der Turmbesatzung den Gang der Ereignisse mit und begab mich nach Hause, um etwas zu schlafen. In diesem Augenblick erwiderten die Amerikaner einige Schüsse einer deutschen Batterie, die aus der Richtung Bolheim schoß. Die Granaten flogen über die Stadt und schlugen in Mergelstetten ein, wo es eine Anzahl Tote und Verwundete gab. Als ich mich gerade im Souterrain auf eine Matratze niedergelegt hatte, läutete es an der Haustüre und es kamen in größter Aufregung drei Herren herein, die ich nicht alle gleich erkannte. Es waren Herr Illenberger, Herr Maier, der Schwiegersohn von Herrn Gnaier, und Herr Haspel, unser Auslandskorrespondent. Letzterer zeigte einen englisch geschriebenen Zettel vor, auf dem stand, er möge sofort den Oberbürgermeister herbeibringen.

Herr Haspel, der in der Kolonie halbwegs zwischen Schnaitheim und Heidenheim wohnt, war von amerikanischen Truppen herausgeholt und mit diesem Auftrag weggeschickt worden. Ultimatum 1 Stunde. Er hatte das Auto der Firma Gnaier aufgetrieben, hatte aber den stellvertretenden Oberbürgermeister Schwaderer weder im Rathaus noch in der Wohnung gefunden und bat mich, an seiner Stelle zu den Amerikanern zu fahren. Später stellte sich heraus, daß der Bürgermeister im Rathaus war, wo unglücklicherweise die Hausklingel nicht funktionierte.

Wir fuhren zuerst ins Polizeigebäude, wo ich die Polizeibeamten bat, so schnell wie möglich mit dem Bürgermeister nachzukommen, und fuhr dann Schnaitheim zu mit einem Polizisten, der mit einer weißen Fahne auf dem Kühler saß, die er mit einer elektrischen Luftschutzlampe anstrahlte. Bei Posthalter Friedrich fuhren wir links in die Wiederholdstraße hinauf, machten rechts um und waren plötzlich mitten in einer amerikanischen Kompanie. Wir wurden erst auf Waffen untersucht. Ich bat, den Leutnant zu sprechen, dem ich erklärte, daß ich keine Befugnis hätte, die Stadt zu übergeben, daß aber der Bürgermeister zur Zeit gesucht werde und in Kürze eintreffen wolle. Die Amerikaner waren besonders interessiert, ob Minen vorhanden seien und ob die Stadt frei von Truppen sei. Beides beantwortete ich im befriedigendem Sinne und wir setzten uns hierauf kriegsmäßig gesichert in Bewegung nach der Stadt. Ungefähr 200m vor der WCM kam ein Auto, dem die Herren Schwaderer, Dr. Plappert und Mann entstiegen. Auch Herr Ketterle und Herr Streicher waren auf Rädern mitgefahren. Nach einigem Durcheinander und nachdem Herr Schwaderer erklärt hatte, daß er die Stadt hiermit übergebe, setzten wir den Marsch weiter bis zum Polizeigebäude fort. Dort drangen die Amerikaner ein und entwaffneten sofort die Polizeibeamten.
Wir begaben uns dann weiter durch die stille, mondbeglänzte Stadt nach dem Rathaus, wo wir uns in den kleinen Rathaussaal begaben.

Kurz vorher ereignete sich ein unangenehmer Zwischellfall. Aus dem Haus der Firma Haux wurde von einem deutschen Soldaten geschossen, worauf die Amerikaner mit Phosphorgeschossen und Handgranaten antworteten, so daß die beiden Hauxschen Gebäude zu brennen anfingen.

Es war eine unangenehme Situation. Man machte mir im Rathaus den Vorwurf, wir hätten die Stadt als offen erklärt und nun werde geschossen. Ein Leutnant forderte mich auf, dem Bürgermeister zu befehlen, er solle sofort sämtliche in der Stadt noch vorhandene Soldaten beibringen. Ich erklärte dem Offizier, daß der Bürgermeister vor einigen Stunden erst sein Amt übernommen habe und nicht dafür verantwortlich gemacht werden könne, wenn vereinzelte deutsche Soldaten sich noch in der Stadt befänden. Glücklicherweise kam dann ein sehr netter Hauptmann, so daß die Stimmung sofort eine bessere wurde.

Inzwischen waren Herr Dr. Plappert und Herr Mann mit einem Soldaten zu den in den letzten Häusern am Galgenberg nun doch noch von Zang her eingetroffenen Amerikanern geschickt worden, bei denen sich ein Major befand, der sofort die Bedingungen diktierte, die morgens um 7 Uhr in allen Straßen der Stadt ausgehängt werden sollten, wobei die beiden Herren mit ihrem Leben für die Durchführung der Befehle haften sollten.
In dem kleinen Sitzungssaal des Rathauses, wo ich mich dauernd aufhielt, kamen nun alle möglichen Personen an, gefangene deutsche Soldaten, schließlich einige Ärzte mit Oberstabsarzt Dr. Kutter, der Anordnungen für die Lazarette empfing. Plötzlich tauchte der Wunsch auf, eine angeblich im Amtsgefängnis eingesperrte Amerikanerin Baronin Tessin zu befreien. Herr Mann wurde ausgeschickt, die Baronin war aber schon aus dem Gefängnis entlassen worden. Die Nacht endete schließlich damit, daß ich mit Herrn Stadtkämmerer Heselschwerdt und einem amerikanischen Soldaten, der gut deutsch sprach und die Stadt lobte, zur Firma Voith herunterging, der einzigen Stelle, wo so spät in der Nacht noch oder so früh am Morgen die Anschläge im Turm auf der Maschine abgeschrieben und im Betriebsbüro vervielfältigt werden konnten.
Der im Turm befindlichen Besatzung mußte ich noch die allerneuesten Ereignisse erzählen und dann endlich gegen 4 1/2 Uhr morgens konnte ich mich niederlegen.

Zusammenfassend muß ich also konstatieren, daß eine ganze Anzahl von glücklichen Umständen zusammengekommen ist, um die Stadt unbeschädigt zu erhalten. Eine Übergabe erfolgte erst, als die Truppen und der Volkssturm abgezogen waren und überhaupt niemand mehr zu einer Verteidigung vorhanden war. Ich sage das deshalb, weil von gewissen Fanatikern noch am folgenden Tag Bemerkungen fielen: "Nun wisse man ja, warum der Krieg verloren sei und wer dahinter stecke!"

Warum diese Nacht so günstig verlaufen ist, habe ich aus der strategischen Lage her zu erklären versucht. Es hat ein gütiges Schicksal über der Stadt gewaltet und wir müssen uns durch ein entsprechendes Verhalten dieses Schicksals würdig erweisen. Die Stadt hätte ja schon viel früher durch Luftangriffe zerstört werden können. Warum das nicht geschah, ist nicht eindeutig festzustellen. Die Amerikaner selbst waren darüber erstaunt. Die einen meinten, Heidenheim sei in erster Linie eine Lazarettstadt, die anderen glaubten, die bei der Firma Voith hergestellten Kriegsprodukte seien nicht interessant genug gewesen, um ein solches Spezialwerk zu zerstören. Vielleicht wird später eine Möglichkeit vorhanden sein, bei der amerikanischen Luftwaffe selbst herauszubekommen, ob ein Zufall vorliegt oder bewußt die Stadt und das Werk geschont worden sind. Jedenfalls hat man die Stadt nicht übersehen. Schon auf dem Rathaus hatte ich Gelegenheit, ein ziemlich großes Luftbild der Stadt Heidenheim in Händen der Offiziere zu sehen. Außerdem wurde mir später von amerikanischen Offizieren ein noch größeres, durch Druck vervielfältigtes Luftbild der Stadt gezeigt, wo jedes bedeutendere Gebäude und alle Werke umrandet, mit Zahlen versehen und auf einem Verzeichnis auf dem Rande der Karte aufgeführt waren. Sogar mein eigenes Wohnhaus war in dieser Weise bezeichnet. Derartige Karten, erklärten die Offiziere, seien von jedem größeren Ort Deutschlands hergestellt worden. Die Amerikaner seien Meister in Luftbildaufnahmen.

Es war vorauszusehen, daß Kraft-, Licht- und auch Wasserversorgung durch die Kampfhandlungen unterbrochen würden bei der Empfindlichkeit unseres Überlandnetzes. Tatsächlich hatte Dienstagnachmittag alles aufgehört. Da schon im Laufe des 25. April die Frage der Ernährung der vielen ausländischen Arbeiter aufgeworfen wurde, benutzte ich die Gelegenheit, zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen und bat die Amerikaner um einen Lastwagen nach Hermaringen, um Kartoffeln zu holen und um nach unserem Wasserkraftwerk zu sehen, das die einzige größere Energiequelle der Umgebung war, um wenigstens die Wasserversorgung der Stadt Heidenheim wieder in Gang zu bringen. Ein amerikanischer Lastwagen wurde mir bereitwilligst zur Verfügung gestellt, und ich fuhr um 2 Uhr nachmittags mit den notwendigen Mannschaften nach Hermaringen. Diese Fahrt war außerordentlich interessant. Infolge der Brückensprengungen, Minenlegungen etc. brauchten wir 1 1/2 Std. nach Hermaringen, teilweise fuhren wir über die Felder weg. Wir hatten auf diese Weise Gelegenheit, mit der nach Süden vorgehenden amerikanischen Armee zu marschieren bzw. sie zu überholen, da infolge der Verkehrshindernisse viele Stockungen stattfanden. Auf diese Weise konnten wir die vielseitigen Gefährte und die Truppen genau betrachten. Der Eindruck war überwältigend und dies um so mehr, als wir kurz vorher das zurückflutende deutsche Heer gesehen hatten. Dazu kam neben der technischen Vollendung die hervorragende körperliche Verfassung des amerikanischen Heeres.

Damit wurde meine immer wieder vorgebrachte Auffassung bestätigt, daß dieser Krieg noch mehr als der erste ein technischer sei und daß es absurd ist, an einen Sieg zu glauben, wenn man sich, was Material und Menschen betrifft, in einem solchen kläglichen Zustand befindet wie Deutschland nach 5 1/2jährigem Ringen.

Gegen 7 Uhr abends fuhren wir wieder zurück, nachdem wir kurz vor Hermaringen einen Leitungsdefekt geflickt und unsere Kartoffeln aufgeladen hatten. Leider sahen wir auf dem Rückweg weitere Schäden an der Leitung. Aber schon am nächsten Tag war es möglich, durch Entgegenkommen der Amerikaner auch diese Stellen zu flicken, und nach 48 Stunden hatte die Stadt wiederum Wasser und nach weiteren 2 Tagen war es auch gelungen, durch den Einsatz tüchtiger schwäbischer Männer Anschluß an die größeren Wasserkräfte der Iller etc. zu gewinnen, so daß auch Licht und Kraft in beschränktem Maße wieder in Heidenheim zur Verfügung standen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Tat unseres Meisters Albert Zeiner hinweisen, der am 24. April abends die Sprengungen unseres Kraftwerkes in Hermaringen, in dem viele wertvolle Gegenstände und eine große Geldsumme für Gehälter und Löhne der Firma waren, durch deutsche Truppen verhindert hatte dadurch, daß er unter Anwendung aller ihm zur Verfügung stehenden Alkoholvorräte den damit beauftragten Soldaten so benebelte, daß er den Befehl nicht ordnungsgemäß ausführen konnte bzw. Zeiner in der Lage war, die Zündschnüre unbemerkt zu durchschneiden. Ein Jahr vorher hatte ich im Kampf gegen die Arbeitsfront, die die Pensionierung Albert Zeiners wegen einer politischen Äußerung verlangt hatte, es durchgesetzt, daß Albert Zeiner im Amte verblieben ist. Auf diese Weise hat Albert Zeiner seinen Dank zurückerstattet, eine Tat, die auch der Stadt Heidenheim zugute kam.

Dr.-Ing. E.h. Dr. rer. pol. h. c. Hanns Voith

  

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