Das Heidenheimer Naturtheater

Die Heidenheimer Volksschauspiele haben sich in dem Zeitraum von nahezu 40 Jahren so sehr in das kulturelle Leben Heidenheims eingefügt, als würden sie mindestens schon ein Jahrhundert bestehen und dem geistigen Gesicht der Stadt durch Generationen hindurch den Stempel aufgedrückt haben. Das Geheimnis zu den großen, anhaltenden Erfolgen im Naturtheater liegt darin, daß die führenden geistigen Kräfte und sämtliche Mitwirkenden, welche sich jahraus, jahrein in bewundernswerter Hingabe zur Verfügung stellen, den Impuls zum Handeln lediglich schöpfen aus dem Idealismus und keinerlei wirtschaftlichen Vorteile aus ihrer Mitarbeit erwarten, noch erzielen können.

  

  

Die Gründung der Volkskunstvereinigung Heidenheim

Als im Mai 1919 diese volkskünstlerische Vereinigung in Heidenheim gegründet wurde, da bedeutete diese Neubildung eines Vereins zunächst ein Sammeln der Männer und Frauen, die schon in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und dann erneut gegen Ende und nach Schluß dieses Krieges sich in der damals üblichen Weise in Vereinen und Gesellschaften schauspielerisch betätigt hatten.
Diese Pioniere volkskünstlerischer Gestaltung auf dem Gebiete des Dramatischen hatten, lange ehe der Begriff des Laienspiels geprägt wurde, das Empfinden und den Glauben, dieses laienmäßige Spiel sei etwas, das so gut der Pflege und sich entwickelnder Arbeit wert wäre, wie etwa das Singen oder Turnen. Mit 28 Mitgliedern trat die junge Vereinigung unter der Leitung von Gustav Müller vor die Öffentlichkeit. Glücklicherweise hatte die neue Gemeinschaft von Anfang an die geistigen Kräfte in sich, die allem Wollen das rechte Ziel geben konnten.
Wenn diese geistigen Kräfte als Symbol ihres volkskünstlerischen Gestaltens den Kopf unseres Dichterfürsten Schiller wählten - er ist den Drucksachen der Vereinigung aufgedruckt und wird von den aktiven Mitgliedern als Ehrennadel getragen -, so lagen darin der Wille und das Bekenntnis beschlossen, das Schaffen auf der Bühne als das einer moralischen Anstalt anzusehen. Damit war die volksbildende Grundlage gegeben: durch Aufführung volkstümlicher Werke, besonders historischen und sagenhaften Inhalts, sollte der so zerrissenen Gegenwart ein gewisser Sammlungspunkt gegeben, sollte das Volk dem Gebiete der großen dramatischen Dichtung näher gebracht werden; die Mitglieder der Vereinigung sollten selbstschaffend - als Volkskünstler - Kräfte in sich entwickeln, als eine in ein Ziel gespannte Gemeinschaft, die alle Volkskunstfreunde für ideales Streben begeistern.

  

Erbauung des Naturtheaters

Nach wenigen Jahren erwies sich die Stätte der praktischen Volksbildungsarbeit der Heidenheimer Laienspieler, der 800 Personen fassende Konzerthaussaal, als zu klein für das Wollen der Vereinigung. Die 5 Jahre von 1919 bis 1924 waren die Lehrjahre für die an Zahl und innerer Kraft wachsende Spielgemeinschaft. Nun sah die Vereinsleitung die Pflicht des Wirkens in die Breite und Tiefe vor sich. Nach beendigter Inflationszeit, ohne eigene finanzielle Mittel, ohne staatliche und städtische Unterstützung und bei ganz rarem Goldgeld wagten es die Laienspieler im Jahre 1924, hinter dem Schloß Hellenstein eine eigene Freilichtbühne zu schaffen, die in ein für diesen Zweck besonders geeignetes Waldgelände eingebettet liegt.
Die Seele des Vereins und des ganzen Vorhabens war Gustav Müller, Gärtnermeister bei der Firma J. M. Voith. Was an körperlicher und geistiger Arbeit zu leisten war, das gaben die Vereinsmitglieder willig und unentgeltlich her. Dazu wagten sie es, eine nicht unbeträchtliche Schuldenlast zum gemeinsamen Tragen aufzunehmen. Die örtlich begrenzte Volkskunstvereinigung Heidenheim war so zur Trägerin der in großem Umkreise wirksamen Heidenheimer Volksschauspiele geworden, und sie ist es bis heute geblieben.

  

 

  

Ungeahnte Erfolge

Den Auftakt der volkskulturellen Arbeit im Naturtheater konnte selbstverständlich nur der Dramatiker geben, dessen Geist bei der Gründung der Vereinigung Pate gestanden hatte. Friedrich Schillers Freiheitsdrama "Wilhelm Tell" war im Jahr 1924 die erste Dichtung auf der Freilichtbühne. Nach beendigter Spielzeit war der Erfolg der neuen Arbeit so stark in das Bewußtsein und in das Wollen der mehrhundertköpfigen Laienspielgemeinde eingedrungen, daß alle wußten, für lange Zeit an dieser selbstgewählten Aufgabe arbeiten zu dürfen.
Im Jahre 1925 wurde ein "Andreas Hofer" gespielt, den der Gründer der Vereinigung, Gärtnermeister Gustav Müller, in treffender volkstümlicher Weise schrieb. 1926 folgten Friedrich Hebbels "Nibelungen", und 1927 griffen die Spieler zu dem Konradin-Drama "Der junge König" des rheinischen Dichters Dr. Raoul Konen. 1928 fesselte die Zuschauer vor allem des heimatgeschichtlichen Gepräges willen Friedrich Wolfs "Der arme Konrad"; 1929 erwies sich trotz mehrfacher Zweifel Heinrich von Kleists "Käthchen von Heilbronn" als ein dem einfachen Volksempfinden sehr zusagendes Drama. 1930 wurde eine Uraufführung gewagt, das Spiel "Trutz und Treue" von dem württembergischen Dramatiker Dr. Walter Lutz. Es wurde unter dem heimatlich bekannten Titel "Schwabenherzog Ernst" ein voller Erfolg. 1931 wurde mit Hebbels "Genoveva" zum zweitenmal der Beweis geliefert, daß gerade Hebbel von unserem Volke besonders gut verstanden wird. 1932 bereiteten die Heidenheimer Spieler dem Gedenken an den größten deutschen Dichter, Johann Wolfgang von Goethe, mit den Aufführungen von dessen Jugendwerk "Götz von Berlichingen" einen überaus glänzenden Beitrag. 1933 endlich, im 10. Spieljahr, kam zum erstenmal ein religiöses Volksschauspiel, und zwar "Das große Welttheater" des spanischen Dramatikers Calderon, zur Aufführung, das durch die Nachdichtung des Freiherrn von Eichendorff längst zu einem allgemein anerkannten Kulturgut geworden ist.

  

Weitere Naturtheater-Aufführungen bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges

1934: "Totila" von W. Kube
1935: "Agnes Bernauer" von Friedrich Hebbel
1936: "Engel Hiltensperger" von Georg Schmückle
1937: "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller
1938: "Die Jungfrau von Orleans" von Friedrich Schiller
1939: "Egmont" von Johann Wolfgang von Goethe

Alljährlich fanden 15 Aufführungen an den Sonntag-Nachmittagen statt.

  

Die Ergebnisse der selbstlosen Tätigkeit

Diese sind äußerer und innerer Natur, sind sichtbar und unsichtbar, wägbar und unwägbar. Über die ersteren Formen freuen sich die Heidenheimer Laienspieler von Herzen:

  • ein nicht beabsichtigtes, wirtschaftliches Ergebnis für die Heimatstadt Heidenheim;

  • das eigene finanzielle Durchhalten;

  • die Vergrößerung und Verbesserung der ausgedehnten Bühnenanlagen;

  • der Erwerb eines eigenen Volkskunsthauses im Zentrum der Stadt mit den längst notwendigen Räumen für die Proben, Aufführungen und Versammlungen.

Die inneren Erfolge sind jedoch entscheidend und kraft- und richtunggebend für die Zukunft des Naturtheaters. Die Laienspieler wollten die vielen Menschen der schwäbischen Heimat, die abseits der großen Städte wohnten, mit volksgemäßer dramatischer Kunst versorgen, sie wollten durch selbstlose Arbeit Teile des Volkes zu seinen Denkern und Dichtern führen. Aus solchem Wollen heraus mußten sich die Erfolge geistig-seelischer Art einstellen, die ungleich schwerer wiegen als alle Erfolge wirtschaftlicher Natur. Dabei sei in vorderster Linie erwähnt die Selbstlosigkeit, die sich das ganze Jahr hindurch in vielerlei Art und Weise bei allen Mitgliedern im Dienste der Vereinigung aufzeigt. Daraus ist auch zu erklären, daß diese Arbeit voll Idealismus bereits im Jahre 1931 eine besondere Anerkennung gefunden hat, nämlich die Anerkennung der Gemeinnützigkeit und künstlerischen Werthaftigkeit und damit der Steuerfreiheit seitens des Württembergischen Kultministeriums.

  

  

Bereitschaft und Anerkennung bei den Zuschauern

Jahr um Jahr kamen 40 000 bis 50 000 Menschen allsonntäglich zu den Volksschauspielen in Heidenheim. Viele kamen, weil man in ihrer heimatlichen Umgebung sagte: "Man müsse das Spiel in Heidenheim gesehen haben." Schon von Anfang an war ein großer Teil der Besucher aus innerem Antrieb gekommen und spürte das, was ihnen gegeben werden wollte. Größer ist dann Jahr um Jahr die Zahl der Menschen geworden, die zu den dargestellten Geschehnissen ein Herzensverhältnis bekommen hatten und dem auch oft Ausdruck gaben.
Die Zuschauer spürten, wenn sie im Banne der Spiele standen, daß hier ihnen Menschen aus dem Volke dienten, die da draußen auf dem Spielfeld standen, Menschen aus dem eigenen Heimatraum, die man schon durch Jahre hindurch kannte, nicht dem Namen nach, aber den dargestellten Rollen nach. Das Entquellen aus den ureigensten Kräften und der nimmermüde Wille sicherten der Heidenheimer Volkskunst eine überaus reiche Volksgunst und brachten immer wieder Volksmassen als Zuschauer herbei, wie sie in Heidenheim nun schon Tradition geworden sind.

  

Weiterführung der Volksschauspiele nach dem Zusammenbruch

Übrig blieb ein großes Trümmerfeld. Grundstürzende Änderungen vollzogen sich, Millionen von Menschen waren erfüllt von dem Glauben an eine freie Zukunft. Inmitten der gewaltigen Umwandlungen und Bewegungen Anno 1945 rührte sich der ungebrochene Spielgeist der Heidenheimer Laienspieler, denn zu keiner Zeit brauchen die Menschen klarere Wertmaßstäbe mehr als in den Jahren schwerer Erschütterungen. Die Heidenheimer Volksschauspieler waren wiederum zur Stelle; sie hatten sich nach schweren Verwundungen, Kriegsgefangenschaft und Heimatlosigkeit wieder zusammengefunden und sie begannen, ihre volkskünstlerische Gestaltungskraft noch mehr zu vertiefen. Ja, sie verdoppelten ihre Bereitschaft, spielten nicht nur wie vordem an den Sonntag-Nachmittagen, sondern nun dazu noch an den Samstag-Abenden, und ringen seit ihrem neuen Spielbeginn im Jahr 1946 noch mehr um die Seelen der zu ihnen kommenden Besucher. Alle, die willigen Herzens sind, sollen durch die Naturtheateraufführungen für die entscheidenden Dinge des Lebens eine Klärung und Stärkung finden können. Noch mehr ist das Heidenheimer Naturtheater eine wirkliche Volksbühne geworden; die jährlichen Besucherzahlen in den Spieljahren 1946 bis 1961 schwanken zwischen 50 000 und nahezu 100 000. Überaus volkstümliche Spiele gaben den Auftukt, denen hernach klassische Dichtungen und Uraufführungen des schwäbischen Dramatikers Paul Wanner folgten:

1946: "Das tapfere Schneiderlein"
1947: "Gretle von Strümpfelbach" von August Reiff
1948: "Der Geiger von Gmünd" von Hermann Streich
1949: "Der Baumeister Gottes" von Paul Wanner
1950: "Die Pfingstorgel" von Alois Lippl
1951: "Bettler vor dem Kreuz" von Paul Wanner
1952: "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller
1953: "Das große Welttheater" von Calderon
1954: "Die Nibelungen" von Friedrich Hebbel
1955: "Die Nibelungen - Pechvogel" von Friedrich Hebbel
1956: "Götz von Berlichingen" von Johann Wolfgang von Goethe
1957: "Schelm von Bergen" von Carl Zuckmayer
1958: "Die Weiber von Schorndorf" von Paul Wanner
1959: "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller
1960: "Der Schneider von Ulm" von Paul Wanner
1961: "Der Geiger, von Gmünd" von Paul Wanner
1962: "Andreas Hofer" von Paul Wanner

  

Pläne für die Zukunft

Im Jahre 1963 feiern die Heidenheimer Volksschauspiele ihr 40jähriges Bestehen. Es ist gewiß nichts Alltägliches, wenn eine große Vereinigung der Stadt Heidenheim Jahrzehnt um Jahrzehnt ihrer kulturellen Tätigkeit treu bleibt, und wenn deren Mitglieder nach vorausgegangenen 70 Probetagen jeden Sommer hindurch bei 21 Aufführungen das Wochenende für sie opfern, ohne daß an eine Bezahlung hierfür gedacht werden darf. Aber nicht weniger groß ist, daß auch die Zuschauer von nah und fern den Heidenheimer Volksschauspielen treu bleiben und an den Samstagen und Sonntagen zu Tausenden herbeiströmen. In den Heidenheimer Volksschauspielen hat die Kunst zu den Herzen der Besucher gefunden. Der Landtag und das Kultusministerium von Baden-Württemberg, die Kreisverwaltung und Stadtverwaltung haben insbesondere in den Jahren seit 1960 durch Staatsbeiträge und Zuwendungen ihre Anerkennung der Laienspielergemeinde gegenüber bekundet.
Freilich lastet die seelische Not der Unsicherheit in der Welt schwer auf uns allen. Doch einem Sämann gleich hoffen die Laienspieler im industriellen Heidenheim, daß, wie aus aller guten Saat, so auch aus der ihrigen, reiche und reife Frucht erwachsen werde. Alljährlich werden es Tausende von Theaterbesuchern sein, die sich durch ein volksverbundenes Spiel neue Kräfte für den Alltag geben lassen wollen, die gewillt sind, den ihnen angebotenen Teil der Kultur entgegenzunehmen, und die gesonnen sind, ihres eigenen Herzens Wünsche gleichzuschalten mit dem Sehnen aller guten Menschen, daß aus der Vergangenheit und der Gegenwart heraus für die ganze Welt beglückende Zukunft in Freiheit, Wahrheit und Frieden werden möge.